George Edward Moore hat den modernen Kompatibilismus entscheidend mitgeprägt. Im Schlusskapitel seines Buches Ethics mit dem Titel "Free Will" argumentiert er erstens für die These, dass es durchaus mit dem Determinismus vereinbar ist, dass Menschen manchmal anders handeln können, als sie es tatsächlich tun; zweitens liefert er zugleich eine neue Antwort auf die Frage, wie der Begriff der Willensfreiheit so gefasst werden kann, das auch Willensfreiheit mit dem Kompatibilismus vereinbar wird.
Freiheit ist auch nach Moore davon abhängig, dass wir anders handeln oder uns anders entscheiden können. Aber ist wirklich klar, dass diese Bedingung nicht erfüllt sein kann, wenn der Determinismus wahr ist? Moore bezweifelt das.
Um zu zeigen, dass wir auch dann – zumindest manchmal – anders handeln oder uns anders entscheiden können, wenn der Determinismus wahr ist, macht Moore zunächst auf eine kaum bestreitbare Tatsache aufmerksam. Bei den Dingen, die ich tatsächlich nicht tue, gibt es einen bemerkenswerten Unterschied. Einige dieser Dinge könnte ich tun, andere nicht. Auch wenn ich es nicht tue, könnte ich z.B. jetzt von meinem Stuhl aufstehen und in den Garten gehen; aber ich könnte nicht aus dem Stand zwei Meter hoch springen oder zwei zehnstellige Zahlen im Kopf multiplizieren. Und auch sonst gilt: Das eine Auto kann 250 km/h schnell fahren, das andere nicht – auch wenn beide im Augenblick in der Garage stehen. Der eine kann 100m in unter 11 Sekunden laufen, der andere nicht – auch wenn beide im Augenblick schlafend im Bett liegen. Katzen können Bäume hinauf klettern, Hunde nicht – auch wenn es beide im Augenblick nicht tun. Die Frage ist: Ist diese Art von Können mit dem Determinismus vereinbar? Und: Ist es diese Art von Können, die die Voraussetzung von Freiheit darstellt?
Determinismus ist die These, dass es für jedes Ereignis eine hinreichende Ursache gibt oder, anders ausdrückt, dass zu jedem Zeitpunkt der gegenwärtige Zustand der Welt und die Naturgesetze eindeutig festlegen, wie es weitergeht. Insofern gibt es natürlich einen Sinn von "können", in dem gilt: Wenn der Determinismus wahr ist, dann kann zu jedem Zeitpunkt das und nur das geschehen, was tatsächlich geschieht. Nennen wir diesen Sinn von "können" "naturgesetzliche Möglichkeit". Ist dies der einzige Sinn von "können"? Und ist es dieser Sinn von "können", in dem Katzen Bäume hinauf klettern können, Hunde aber nicht?
Moore ist der Meinung, dass das Wort "können" mehrdeutig ist und dass der Sinn von "können", in dem Katzen Bäume hinauf klettern können, Hunde aber nicht, nicht der von "naturgesetzlich möglich" ist. Warum nicht? Was meinen wir denn wirklich, so Moore, wenn wir sagen: Ich könnte jetzt von meinem Stuhl aufstehen und in den Garten gehen? Offenbar doch Folgendes: Wenn ich mich dazu entscheiden würde, würde ich jetzt von meinem Stuhl aufstehen und in den Garten gehen.
"In welchem Sinn des Wortes 'können' ist es ganz gewiß, daß wir oft etwas hätten tun können, das wir nicht getan haben? In welchem Sinn hätte ich z. B. heute morgen zwei Kilometer in zwanzig Minuten gehen können, obwohl ich dies nicht getan habe? Es drängt sich die Vermutung auf, daß ich letztlich nichts anderes damit meine, als daß ich gekonnt hätte, wenn ich mich entsprechend entschieden hätte; oder vielleicht sollten wir (um eine mögliche Komplikation zu vermeiden) besser sagen, 'daß ich sie gegangen sein würde, wenn ich mich dazu entschieden hätte'. Mit anderen Worten: Es ist zu vermuten, daß wir die Wendung 'Ich konnte' einfach und ausschließlich als Kurzfassung für die Aussage 'Ich würde, wenn ich mich entschieden hätte' gebrauchen." (Moore "Grundprobleme der Ethik", 127; im Original: "There is one Suggestion, which is very obvious: namely, that what I mean is simply after all that I could, if had chosen; or (to avoid a possible complication) perhaps we had better say 'that I should, if I had chosen'. In other words, the suggestion is that we often use the phrase 'I could' simply and solely as a short way of saying 'I should, if I had chosen'.")
Dies ist Moores berühmte konditionale Analyse von "können", die offenbar den Vorteil hat, dass "können" in diesem Sinne mit Determiniertheit vereinbar ist.
Moore vertritt also die folgenden beiden Thesen:
Und aus diesen beiden Thesen folgt:
Man kann auch dann frei sein, wenn der Determinismus wahr ist
Gegen die konditionale Analyse von Können sind unter anderem zwei Einwände vorgebracht worden. Erstens hat Austin (1956) argumentiert: Dass man die Fähigkeit hat, X zu tun, heißt keineswegs, dass es einem immer gelingt, X zu tun, wenn man X tun will. Es kann z.B. wahr sein, dass ein Basketballspieler die Fähigkeit hat, Freiwürfe zu verwandeln, auch wenn ihm dies dann und wann nicht gelingt, obwohl er es will. Ein zweiter Einwand wurde von Campbell (1951) vorgebracht und von Chisholm (1964) aufgenommen: Dass man X tun würde, wenn man sich entscheiden würde, X zu tun, heißt nur dann, dass man X tun könnte, wenn man auch die Fähigkeit hat, sich zu entscheiden, X zu tun. Jemand mit einer Spinnenphobie könnte die Spinne anfassen, wenn er sich dazu entschiede; aber eben das lässt seine Phobie nicht zu. Und deshalb kann er die Spinne nicht anfassen.
Auf die erste Kritik gibt es eine einfache Erwiderung. Moore könnte seine Analyse von "können" so verbessern: Der Satz "A kann X tun" bedeutet – in dem Sinne, der Moore interessiert – nichts anderes als "A würde es in den meisten Fällen gelingen, X zu tun, wenn A sich dazu entscheiden würde, X zu tun". Und was die Kritik von Campbell und Chisholm angeht, so hat Moore diesen Einwand sogar vorausgesehen.
"Zweifellos werden jedoch viele sagen, dies genüge nicht, um uns zu der Aussage zu berechtigen, daß wir einen freien Willen haben. [...] Sie werden nämlich sagen: Angenommen, wir würden oft anders gehandelt haben, wenn wir uns anders entschieden hätten, so trifft es doch nicht zu, daß wir einen freien Willen haben, es sei denn, es trifft in diesen Fällen auch oft zu, daß wir uns anders hätten entscheiden können. Das Problem des freien Willens stellt sich somit als die Frage, ob wir uns jemals für etwas hätten entscheiden können, für das wir uns nicht entschieden haben, oder jemals für etwas entscheiden können, für das wir uns de facto nicht entscheiden." (Moore "Grundprobleme der Ethik", 130)
Dieses Argument scheint auch Moore plausibel, und er versucht deshalb eine befriedigende Lösung zu finden. Tatsächlich, so Moore, ist es sogar in zwei verschiedenen Sinnen oft so, dass wir uns anders hätten entscheiden können, als wir es getan haben. Und in beiden Sinnen ist es mit dem Determinismus vereinbar, dass wir uns anders hätten entscheiden können. Den ersten Sinn erläutert Moore so:
"Wenn wir sagen, wir hätten etwas tun können, das wir nicht getan haben, und damit oft bloß meinen, wir würden es getan haben, wenn wir uns dazu entschieden hätten, dann meinen wir vielleicht mit der Aussage, daß wir uns dazu hätten entscheiden können, lediglich, daß wir uns so entschieden haben würden, wenn wir uns entschieden hätten, diese Entscheidung zu treffen." (Moore "Grundprobleme der Ethik", 130f.; im Original: "If by saying that we could have done, what we did not do, we often mean merely that we should have done it, if we had chosen to do it, then obviously, by saying that we could have chosen to do it, we may mean merely that we should have so chosen, if we had chosen to make the choice.")
Moore geht hier den Weg, "Willensfreiheit" ganz analog zu "Handlungsfreiheit" zu definieren: Wenn Handlungsfreiheit in der Fähigkeit besteht, tun zu können, was man tun will, so besteht Willensfreiheit in der Fähigkeit, wollen zu können, was man wollen will. Damit macht er einen entscheidenden Schritt über den klassischen Kompatibilismus von Hobbes und Hume hinaus, der Freiheit schlicht mit Handlungsfreiheit gleichsetzt. Diese Idee ist später besonders von Harry Frankfurt weiter entwickelt worden.
Der zweite Sinn von "können", in dem wir uns nach Moore oft anders hätten entscheiden können, als wir uns entschieden haben, beruht auf einer weiteren Lesart von "möglich". Oft sagen wir, dass ein Ereignis möglich ist, wenn niemand mit Sicherheit wissen kann, ob es eintritt oder nicht. In diesem Sinne können wir uns nach Moore fast immer anders entscheiden, als wir es tun. Denn im allgemeinen kann niemand mit Sicherheit voraussagen, wie sich eine Person entscheiden wird. Und so kommt Moore zu dem Ergebnis:
"Es ist daher ganz gewiß, 1. daß wir oft anders gehandelt haben würden, wenn wir uns dazu entschieden hätten; 2. daß wir uns in ähnlicher Weise oft anders entschieden haben würden, wenn wir uns entschieden hätten, uns so zu entscheiden; und 3. daß uns fast immer eine andere Entscheidung möglich war, in dem Sinn, daß niemand von uns mit Sicherheit wissen konnte, ob er sich nicht so entscheiden würde." (Moore "Grundprobleme der Ethik", 132)
All dies ist mit dem Determinismus vereinbar. Und gibt es jemanden, der im Ernst bestreiten will, dass diese Bedingungen dafür ausreichen, dass wir einen freien Willen haben?
Bisher sehen die Dinge so aus: Jemand ist in einer Handlung X frei, wenn er (a) X hätte unterlassen können (d.h. wenn er X unterlassen hätte, wenn er sich dafür entschieden hätte, X zu unterlassen) und wenn er (b) sich hätte entscheiden können, X zu unterlassen (d.h. wenn er die Entscheidung, X zu unterlassen, getroffen hätte, wenn er sich dafür entschieden hätte, sie zu treffen). Aber reicht das schon aus? Muss man nicht auch noch fordern, dass es ihm möglich war, diese letzte Entscheidung zu fällen? Usw. usw. Offenbar droht hier ein unendlicher Regress, auf den schon C. D. Broad (1951) aufmerksam gemacht hat und der Broad zu der Schlussfolgerung veranlasst hat, dass jede konditionale Analyse von "können" letztlich zum Scheitern verurteilt ist. (Dieser Regresseinwand spielt auch in der Diskussion um die "hierarchische Theorie" Harry Frankfurts eine zentrale Rolle.)
Was würde es für Moores Überlegungen bedeuten, wenn die konditionale Analyse tatsächlich nicht zu halten wäre? Nicht sehr viel. Denn die konditionale Analyse ist für die Grundidee seiner Argumentation tatsächlich nicht entscheidend. Diese Grundidee lautet: (1) Der Sinn von "können", in dem ich jetzt aufstehen und in den Garten gehen, aber nicht zwei Meter hoch springen kann, ist mit Determiniertheit vereinbar, und (2) für Freiheit ist nur erforderlich, dass ich in diesem Sinne anders handeln kann. Dass zumindest die Behauptung (1) auch unabhängig von der konditionalen Analyse von "können" sehr plausibel ist, zeigt die folgende Überlegung – ganz unabhängig von der Wahrheit der konditionalen Analyse.
Wer bestreitet, dass ein Wesen – sei es Mensch, Tier oder Maschine – zu einem Zeitpunkt die Fähigkeit hat, X zu tun, an dem determiniert ist, dass es etwas anderes als X tut, der muss auch behaupten, dass in einer determinierten Welt kein Wesen eine Fähigkeit hat, wenn es diese Fähigkeit nicht ausübt. In einer determinierten Welt wäre es daher falsch zu sagen, dass ein Auto, das in der Garage steht, 200 km/h schnell fahren kann oder dass ein Mensch, der auf einem Stuhl sitzt, aufstehen kann. Doch das ist absurd. Denn wenn das so wäre, könnte man aus der bloßen Tatsache, dass manche Autos 200 km/h schnell fahren können, auch wenn sie es nicht tun, schließen, dass der Determinismus falsch ist. Anders ausgedrückt: Wenn der Sinn von "können", in dem ich jetzt aufstehen und in den Garten gehen kann, mit dem Determinismus nicht vereinbar wäre, dann stünden wir vor der Alternative: (a) Alle Aussagen der Form, "A kann X tun, obwohl A im Augenblick nicht X tut" sind falsch, oder (b) der Determinismus ist falsch. Dass die Alternative (a) zutrifft, würde aber wohl kaum jemand behaupten. Auf der anderen Seite ist die Determinismusfrage jedoch auch nicht einfach dadurch zu lösen, dass man argumentiert: Die Alternative (a) trifft nicht zu, also ist der Determinismus falsch. Also kann es einfach nicht sein, dass "können" in dem Sinne, in dem ich jetzt aufstehen und in den Garten gehen kann, mit Determiniertheit unvereinbar ist.