Locke ist ein Vertreter des Kompatibilismus, und auf den ersten Blick scheint er zu den Philosophen zu gehören, die meinen, Handlungsfreiheit – die Freiheit tun zu können, was man tun will – sei die einzig wünschbare und reale Freiheit. So schreibt er im Buch II, Kap.21, Abschn. 27 des Versuchs über den menschlichen Verstand: "Somit besteht die Freiheit also darin, daß wir imstande sind, zu handeln oder nicht zu handeln, je nachdem wie wir wählen oder wollen." Und im selben Kapitel schreibt er im Abschn. 14, dass es völlig unsinnig sei zu fragen, ob der Wille frei sei. Der Wille sei nämlich eine Fähigkeit, und die Freiheit sei auch eine Fähigkeit; es habe aber keinen Sinn zu fragen, ob eine Fähigkeit eine Fähigkeit besitze. Sinnvoll fragen könne man deshalb nur, ob der Mensch frei sei. Doch dann gesteht Locke zu, dass man nicht nur sinnvoll fragen kann, ob der Mensch in seinem Handeln frei sei, sondern auch, ob er in seinem Wollen frei sei (Abschn. 22.). Und dies ist für Locke die Frage danach, wodurch der Wille eines Menschen bestimmt wird.
Hier gibt Locke zunächst die Antwort, dass der Wille natürlicherweise durch das jeweils bedrückendste Unbehagen bestimmt wird (Abschn. 40). Allerdings ist das noch nicht die ganze Wahrheit. Denn, so Locke: Menschen werden nicht einfach durch das getrieben, was sie als das bedrückendste Unbehagen empfinden; sie haben vielmehr – in den meisten Fällen – die Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was sie in der gegebenen Situation tun sollten, was moralisch gesehen das Richtige wäre oder was ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse am meisten dienen würde.
"Da in uns sehr zahlreiche Unbehaglichkeiten vorhanden sind, die uns fortwährend beunruhigen und stets bereit sind, den Willen zu bestimmen, so ist es, wie gesagt, natürlich, daß die stärkste und dringendste von ihnen den Willen zur nächsten Handlung bestimmt. Das geschieht denn auch meist, allerdings nicht immer. Da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Kraft besitzt, bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wunsches innezuhalten und mit allen andern Wünschen der Reihe nach ebenso zu verfahren, so hat er auch die Freiheit, ihre Objekte zu betrachten, sie von allen Seiten zu prüfen und gegen andere abzuwägen. Hierin besteht die Freiheit, die der Mensch besitzt […] [W]ir [haben] die Kraft, die Verfolgung dieses oder jenes Wunsches zu unterbrechen, wie jeder täglich bei sich selbst erproben kann. Hier scheint mir die Quelle aller Freiheit zu liegen; hierin scheint das zu bestehen, was man (meines Erachtens unzutreffend) den freien Willen nennt. Denn während einer solchen Hemmung des Begehrens, ehe noch der Wille zum Handeln bestimmt und die (jener Bestimmung folgende) Handlung vollzogen wird, haben wir Gelegenheit, das Gute oder Üble an der Handlung, die wir vorhaben, zu prüfen, ins Auge zu fassen und zu beurteilen. Haben wir dann nach gehöriger Untersuchung unser Urteil gefällt, so haben wir unsere Pflicht erfüllt und damit alles getan, was wir in unserm Streben nach Glück tun können und müssen; und es ist kein Mangel, sondern ein Vorzug unserer Natur, wenn wir, entsprechend dem Endergebnis einer ehrlichen Prüfung, begehren, wollen und handeln." (Abschn. 47)
Willensfreiheit beruht nach Locke also erstens auf der Fähigkeit, vor dem Handeln innezuhalten und zu überlegen, was man in der jeweiligen Situation tun sollte, welche Gründe für die eine oder andere Alternative sprechen. Zweitens setzt Willensfreiheit aber auch voraus, dass wir nach dem Überlegen dem Ergebnis der Überlegung gemäß entscheiden (und handeln) können. Nach Locke ist es sogar keine Einschränkung unserer Freiheit, wenn sich unsere Entscheidungen und Handlungen mit kausaler Notwendigkeit aus dem Ergebnis unserer Überlegungen ergeben. Im Gegenteil: Wenn es anders wäre, wäre unsere Wille gar nicht durch uns selbst bestimmt: "Deshalb unterliegt jeder Mensch kraft seiner Eigenart als vernunftbegabtes Wesen der Notwendigkeit, sich beim Wollen durch seine eigenen Gedanken und durch sein Urteil über das, was für ihn das beste ist, bestimmen zu lassen; sonst wäre er der Entscheidung eines andern als ihm selbst unterworfen, was ein Fehlen der Freiheit bedeuten würde." (Abschn. 48)
Außerdem müsste man nach Locke ein Narr sein, wenn man sich wünschte, immer auch das zu tun können, was einem als falsch erscheint.
"Verdient es den Namen Freiheit, wenn man die Freiheit besitzt, den Narren zu spielen und sich selbst in Schande und Unglück zu stürzen? Wenn Freiheit, wahre Freiheit, darin besteht, daß man sich von der Leitung der Vernunft losreißt und von allen Schranken der Prüfung und des Urteils frei ist, die uns vor dem Erwählen und Tun des Schlechteren bewahren, dann sind Tolle und Narren die einzig Freien; allein ich glaube, keiner, der nicht schon toll ist, wird um einer solchen Freiheit willen wünschen, toll zu werden. Das stete Verlangen nach Glück und der Zwang, den es uns auferlegt, um seinetwillen zu handeln, wird meines Erachtens niemand als eine Schmälerung der Freiheit ansehen oder wenigstens nicht als eine Schmälerung, die zu beklagen wäre." (Abschn. 50)
Für Locke ist es eine der Hauptaufgaben der Erziehung, die Fähigkeit des Heranwachsenden, seine Entscheidungen durch Überlegen zu kontrollieren, zu entwickeln und zu festigen.
Lockes Theorie der Freiheit findet sich hauptsächlich in Buch II, Kapitel 21 "Über die Kraft" seines Hauptwerkes Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1. 4., durchgesehene Auflage. Hamburg: Felix Meiner 2000.